Freitag, 4. September 2015

THE VISIT


THE VISIT
USA 2015

Regie:
M. Night Shyamalan

Darsteller:
Olivia DeJonge,
Ed Oxenbould,
Peter McRobbie,
Deanna Dunagan,
Kathryn Hahn,
Benjamin Kanes,
Erica Lynne Marszalek,
Jon Douglas Rainey



Der Besuch bei Oma und Opa kann für Kinder der Horror sein. Vom staubtrockenen Kuchengebäck bis zum obligatorischen „Du bist aber groß geworden!“-Wangenkniff sind der Schreckensskala nach oben hin kaum Grenzen gesetzt. Wie schlimm es aber tatsächlich werden kann, zeigt THE VISIT, ein kleiner, überaus gemeiner Schocker, in dem zwei jugendliche Geschwister erstmalig auf ihre Großeltern treffen und nach mehreren besorgniserregenden Begebenheiten schließlich anfangen müssen, um ihr Leben zu bangen.

Inhalt:

Die 15-jährige Becca [Olivia DeJonge] und ihr kleiner Bruder Tyler [Ed Oxenbould] fahren mit dem Zug aufs Land zur abgelegenen Farm ihrer Großeltern, um dort eine Woche Urlaub zu machen. Da ihre Mutter sich einst mit den etwas eigenbrötlerischen Sonderlingen zerstritt, begegnen sich die Generationen nun zum ersten Mal. Die beiden Alten entpuppen sich als ein zwar etwas tüdeliges, aber doch sehr freundliches Ehepaar. Lediglich die strengen Hausregeln überraschen die Kinder: Nach 21:30 Uhr darf das Zimmer nicht mehr verlassen werden. Als die Geschwister des Nachts unheimliche Geräusche vernehmen, werden sie jedoch neugierig und schleichen durchs Haus. Dabei werden sie Zeuge, wie ihre Oma sich sehr merkwürdig verhält. Es bleibt nicht bei dem einen Zwischenfall. Auch mit ihrem Opa scheint irgendetwas nicht zu stimmen. Nach und nach dämmert es den beiden Besuchern, dass sie schutzlos in der Falle sitzen.

Kritik:

THE VISIT ist vor allem eines: Die Rückkehr des Regisseurs M. Night Shyamalan, der 1999 mit THE SIXTH SENSE nicht nur einen Kassenfüller, sondern auch einen Meilenstein des Grusel-Thrillers schuf, dessen überraschende finale Wende die Mehrzahl der zuschauerlichen Kinnladen nach unten klappen ließ. In den Folgejahren blieb er – trotz zunehmend nachlassendem Erfolg – Stil und Genre treu, bevor er sich mit DIE LEGENDE VON AANG und AFTER EARTH dem Fantasy- und Science-Fiction-Bereich zuwandte. Speziell letzterer war nicht nur ein finanzielles, sondern auch ein künstlerisches Debakel, das durchaus die Macht gehabt hätte, den guten Ruf des einst gefeierten Wunderkindes endgültig zu ruinieren. Doch Shyamalan tat das einzig Richtige: Fern großer Studiogelder und zweifelhafter Einflüsse schrieb, produzierte und inszenierte er im Anschluss einen kleinen, unabhängigen Nervenkitzler mit deutlicher persönlicher Note und vollkommenem Verzicht auf Sensationen und Dicktuerei. Keine Stars, keine Effekte, kein Trachten nach Revolution – THE VISIT glänzt mit sympathischem Understatement und liefert eine unaufdringliche, klug durchdachte und gewitzt erzählte Schauergeschichte, deren unprätentiöses Gebaren sie gerade eben zu richtig großem Kino werden lässt.

Einer der Gründe, warum THE VISIT so fabelhaft funktioniert, ist der, dass Shyamalan das Publikum die Ereignisse aus arglosen Kinderaugen betrachten lässt – nämlich aus denen der 15-jährigen Becca und ihres jüngeren Bruders Tyler, die beschlossen haben, den Besuch bei ihren Großeltern auf Video zu bannen. Dadurch, dass THE VISIT allein aus ihren Aufzeichnungen besteht, identifiziert man sich mit den beiden quasi von Anfang an – was auch nicht schwerfällt, wurden sie doch dermaßen liebenswert gezeichnet, dass man sie auf Anhieb ins Herz schließt. Der Ankunft bei ihren Verwandten, die zwar ihrem Alter entsprechend manchmal etwas sonderbar, aber nichtsdestoweniger großmütig erscheinen, und den ersten, noch fröhlichen Stunden, folgen bald erst nur ein paar, dann immer mehr seltsame Verhaltensweisen der beiden Senioren, die zunächst zwar alle noch irgendwie erklärbar sind, in der Summe jedoch ein ungutes Gefühl hinterlassen. Es ist diese geschickt eingesetzte Salamitaktik, die so grandios an der Spannungsschraube dreht: Die Merkwürdigkeiten mehren sich Stück für Stück, die Vorkommnisse werden immer rätselhafter, die Situation wirkt immer bedrohlicher. Und doch wird so manch unfassbar scheinende Begebenheit im nächsten Augenblick auf schlüssige und ziemlich banale Weise aufgelöst. Ebenso, wie die beiden jungen Hauptfiguren, beginnt auch der Zuschauer, sich zu fragen, ob hier tatsächlich etwas nicht mit rechten Dingen zugeht, oder ob man überreagiert und es letztendlich doch einen plausiblen Grund für all das gibt.

Diese Ungewissheit um die tatsächlichen Hintergründe, das häppchenweise Servieren von Erkenntnissen und das stetige Vor-die-Füße-Werfen von neuen Mysterien und unheimlichen Zwischenfällen erzeugen eine sagenhaft dichte Atmosphäre, der man sich kaum entziehen kann. Umso erstaunlicher ist es, dass THE VISIT gleichzeitig auch auf einer ganz anderen Ebene punkten kann: Mal abgesehen davon, dass die gesamte Story ohnehin bereits von rabenschwarzem Humor durchzogen ist, bietet das Schauerstück aller Gänsehaut zum Trotze dermaßen viel Typen- und Situationskomik, dass es am Ende mit mehr Lachern ins Ziel kommt, als so manche Komödie. Das liegt in erster Linie an den beiden Jugendlichen, die fantastisch miteinander harmonieren, sich auf reizende Art und Weise gegenseitig aufziehen und die schrägen Begebenheiten zum Teil wunderbar sarkastisch in den Sucher kommentieren. Und wenn der 13-jährige Tyler zwischendurch mal beschließt, dass es angebracht wäre, in die Kamera zu rappen, dann wirkt das nicht etwa peinlich oder unpassend, sondern verleiht dem Ganzen eine Extra-Portion Charme und Herzlichkeit. Es ist verblüffend, wie unkompliziert und selbstverständlich es hier gelingt, waschechte Horror-Elemente mit warmherzigen bis brüllend komischen Humor-Einlagen zu kombinieren, ohne, dass sich etwas davon in irgendeiner Weise im Wege stehen würde.

Trotz des Found-Footage-Konzepts, also der seit BLAIR WITCH PROJECT beliebten Idee, angeblich „gefundene“ Videoaufzeichnungen statt einer als solchen erkennbaren Inszenierung zu präsentieren, wirkt THE VISIT sehr filmisch – was daran liegt, dass Shyamalan auch auf der Metaebene mit dem Thema spielt: Protagonistin Becca strebt eine Karriere als Regisseurin an und versucht daher, die Dokumentation ihres Besuches möglichst professionell zu arrangieren – ein großartiger Einfall, um die Vorteile des Found Footage-Genres nutzen zu können (wie Nähe und Authentizität), ohne dabei auf Mehrwerte wie Bildgestaltung oder Kamerafahrten verzichten zu müssen. Und auch sonst werden die gebotenen Möglichkeiten bestmöglich ausgeschöpft. So bittet Becca im Laufe der Geschehnisse jeden der Beteiligten einmal für ein kurzes Interview vor die Kamera: ihre Mutter, ihren Bruder, ihre Oma und ihren Opa. Was relativ banal klingt, erweist sich als Geniestreich: In ihren Statements lassen sich die Personen in die Seelen blicken – und plötzlich fühlt man sich ihnen näher oder entfernter als jemals zuvor. Und als Becca schließlich selbst vor die Linse tritt, um sich den Fragen ihres Bruders zu stellen, wird das zu einem unerwartet bewegenden, fast magischen Moment, in dem man für kurze Zeit alles andere vollkommen vergisst.

Erneut erweist sich hier die Kleinheit THE VISITs als seine größte Stärke: Die nahezu unbekannten, aber hinreißend authentisch agierenden Darsteller (das Lob gilt besonders der jüngeren Generation) geben einem das Gefühl, gerade echten Persönlichkeiten beizuwohnen. Mit einem Bruce Willis, einem Mel Gibson, einem Mark Wahlberg wäre das schlichtweg nicht möglich gewesen. Statt großer Namen bietet THE VISIT bereits in den ersten fünf Minuten mehr Spannung, Witz und Raffinesse als manch hochbudgetierter Blockbuster. Eines der zumindest in der Öffentlichkeit wahrgenommenen Markenzeichen Shyamalans, die überraschende Wendung am Schluss, gibt es freilich auch hier wieder. Sie ist nicht sensationell. Sie ist nicht noch niemals dagewesen. Sie wird die Welt nicht mehr in kollektives Erstaunen versetzen. Aber sie funktioniert. Und sie ist überaus effektiv. Nach AFTER EARTH ist THE VISIT wieder ein gehöriger Schritt zurück. Nach vorn. Zu den Wurzeln. Ein intelligentes Märchen mit Herz, Seele und Autorenkino-Flair. Sicherlich nicht der beste THE SIXTH SENSE-Nachfolger Shyamalans. Für seine Karriere aber gewiss mit Abstand der wichtigste. Ein kleines, feines Meisterstück, dessen Besuch sich mehr als lohnt.

Laufzeit: 94 Min. / Freigabe: ab 12

Mittwoch, 2. September 2015

SICARIO


SICARIO
USA 2015

Regie:
Denis Villeneuve

Darsteller:
Emily Blunt,
Benicio Del Toro,
Josh Brolin,
Daniel Kaluuya,
Jon Berthal,
Jeffrey Donovan,
Raoul Trujillo,
Sarah Minnich



Inhalt:

Bei einem Einsatz gegen die mexikanische Drogenmafia entdeckt das FBI in einem Haus in Arizona mehrere Dutzend Leichen. Obwohl Agentin Kate Macer [Emily Blunt] dieses Ereignis psychisch schwer zu schaffen macht, meldet sie sich freiwillig als Mitglied einer Sondereinheit unter dem Kommando ihres etwas undurchsichtigen Kollegen Matt Graves [Josh Brolin]: In El Paso will man - auf amerikanischem Boden – nach dem großen Boss des Kartells suchen. Doch Macer merkt bald, dass sie getäuscht wurde: Der Einsatz führt tatsächlich ins mexikanische Júarez, wo internationales Recht herrscht, was die Operation illegal macht. Schnell ist klar, dass dies nicht der einzige Regelverstoß bleiben wird: Matts Team missachtet alle Vorschriften und wendet rücksichtslos Gewalt an, um ans Ziel zu gelangen. Und dann ist da noch das undurchschaubare Mitglied Alejandro Medellín [Benicio Del Toro], das ebenfalls zweifelhafte Motive zu haben scheint. Für Macer wird der Einsatz mehr und mehr zum Alptraum.

Kritik:

Sicario ist ein mexikanischer Slang-Ausdruck und bedeutet so viel wie „Auftragsmörder“. So erklärt es die einführende Texteinblendung, bevor einen Denis Villeneuves [→ PRISONERS] so betitelter Drogen-Thriller ohne Umwege in ein fiebriges Höllenszenario wirft und eine elektrisierende Eröffnungssequenz präsentiert, die den Tenor der folgenden zwei Stunden maßgeblich bestimmen wird. Die brutale Aushebung eines Geheimverstecks der Drogenmafia, kumulierend im unerwarteten Fund eines grauenvollen Massengrabes, ist ein Musterbeispiel brillanten Regie-Handwerks und fesselt einen von der ersten Sekunde an in den Sitz. Die ausdrucksstarken Bilder Roger Deakins' [→ NO COUNTRY FOR OLD MEN] in Kombination mit dem pulsierenden, ins Mark dringenden Sound Jóhann Jóhannssons [→ SKYFALL] kreieren eine zum Schneiden dichte Atmosphäre, die einen regelrecht in sich hineinzieht und eine suggestive Spannung freisetzt, die bis zum Finale anhält. Denn die ganze Aktion ist nur der Vorläufer einer erbarmungslosen Reise in die Finsternis, welche die Hauptprotagonistin Kate Macer bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit führt.

Dabei bietet SICARIO auf inhaltlicher Ebene sogar nur wenig Innovatives: Dass die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen, ist nun wahrlich kein neues Thema des politischen Thrillers, wurde jedoch selten so überzeugend umgesetzt wie hier. Das amerikanische Sondereinsatzkommando missachtet jede formelle und moralische Regel, agiert mit rücksichtsloser Härte und unterscheidet sich somit kaum von den Kartellen, die sie eigentlich bekämpfen. Macer verkommt währenddessen zur fast passiven Person, die fassungslos auf die Gräueltaten und Ungerechtigkeiten blickt und damit in erster Linie dem Publikum als Identifikation dient, dem es kaum anders ergeht. Bereits die erste Station, die Stadt Júarez, die ihre Besucher mit verstümmelten, von einer Brücke hängenden Leichen begrüßt und von einem Team-Mitglied wenig subtil als „Biest“ bezeichnet wird, gleicht einer Hölle auf Erden, in der menschliches Leben keinen Pfifferling mehr wert ist und die einem auf Anhieb klarmacht, dass jede Hoffnung auf Ausmerzung der Verbrechensherrschaft vergebens ist. Das Übel lässt sich nicht mehr bekämpfen - höchstens noch ein bisschen kontrollieren. Und um das zu erreichen, muss man selbst zum Übeltäter werden.

Die Männer in SICARIO wissen das; sie sind abgebrühte Haudegen, die ihre einstigen Ideale, falls sie denn jemals welche hatten, schon längst über Bord geworfen haben. Macer hingegen, die von Anfang an belogen, bisweilen sogar benutzt wird, begreift das erst nach und nach. Emily Blunt [→ LOOPER] gelingt es, alle Facetten dieses inneren Prozesses glaubwürdig abzubilden, ohne dabei in darstellerische Klischees zu verfallen. Ihr gegenüber steht (der zugegebenermaßen sehr wohl klischeehaft besetzte) Benicio Del Toro [→ SIN CITY] als zwielichtiger Alejandro Medellín, der eine entscheidende Rolle für den Verlauf der Ereignisse spielt, dessen Ziele jedoch lange Zeit unklar bleiben und der dadurch abwechselnd als Bedrohung und Verbündeter erscheint. Dazu gesellt sich Josh Brolin [→ GANGSTER SQUAD] als Einsatzleiter Matt Graves, der als zunächst recht sympathischer schräger Vogel auftritt, später jedoch in erster Linie durch seinen eiskalten Zynismus schockiert. Diese Konstellation mag nicht frei sein von gängigen Stereotypen, funktioniert jedoch bestens.

Den brillanten Darstellerleistungen zum Trotze wäre SICARIO allerdings nur halb so beeindruckend ohne seine exzellente Visualisierung, die in vielen Momenten in Sachen Look und Stil eher einem Kriegsfilm als einem Thriller gleicht. Und wenn die Karawanen des Sonderkommandos sich martialisch ihren Weg durch Wüstenlandschaften und Straßenlabyrinthe bahnen, fühlt man sich bisweilen auch an apokalyptische Endzeitszenarien der Marke MAD MAX erinnert. Auffällig ist dabei immer wieder eine ungemein starke Symbolik: Als Macer nach ihrem ersten Einsatz unter der Dusche steht und sich erschöpft das Blut vom Körper wäscht, dann beschreibt das ihre ganze Situation innerhalb nur weniger Sekunden und ist zugleich auch finsterer Vorbote aller schrecklichen Ereignisse, die noch folgen werden. Später steht sie dann auf einem Häuserdach, um sich ein „Feuerwerk“ anzusehen, und wird Zeuge, wie rot glühende Geschütze den Nachthimmel erhellen - eine eben so simple wie effektive Veranschaulichung der Tatsache, dass die Gewalt an diesem Teil der Erde nicht nur längst zum Alltag gehört, sondern sich bereits unauslöschlich etabliert hat.

Das Mittendrin statt nur dabei-Gefühl, das SICARIO vermittelt, ist beachtlich und erreicht seinen Höhepunkt in dem Moment, als das amerikanische Team an der Grenzstation von Júarez in einem Stau eingepfercht ist und plötzlich jeder Insasse der umliegenden Fahrzeuge eine Waffe auf die Männer zu richten scheint. Die Nerven sind bis zum Zerreißen gespannt, jede falsche Bewegung könnte ein gewaltiges Massaker zur Folge haben. Die hier aufgebaute Dramatik ist von immenser Intensität, das in der Luft liegende Unheil förmlich greifbar und die Erregung der Protagonisten scheint auch der Zuschauer bis in die Haarspitzen zu spüren. Es sind Augenblicke wie dieser, die SICARIO zu einem Erlebnis machen, dessen Sogwirkung man sich kaum entziehen kann. Dass der Kreislauf aus Blut und Brutalität nicht zu durchbrechen ist, ist die Quintessenz, auf die schließlich alles hinauslaufen wird und die in einer nicht unbedingt erbaulichen, wenngleich großartigen Schlussszene auf den Punkt gebracht wird. „Du wirst hier nicht überleben“, heißt es am Ende, „denn du bist kein Wolf. Und dies ist jetzt das Land der Wölfe.“

Laufzeit: 121 Min. / Freigabe: ab 16