Donnerstag, 23. August 2012

MALASTRANA


LA CORTA NOTTE DELLE BAMBOLE DI VETRO
Italien, BRD 1971

Regie:
Aldo Lado

Darsteller:
Jean Sorel,
Barbara Bach,
Mario Adorf,
Ingrid Thulin,
Fabijan Sovagovic,
José Quaglio,
Relja Bašić,
Piero Vida



Inhalt:

„Tot? Ich – tot? Unmöglich! Ich lebe! Seht ihr nicht, dass ich lebe?“

So spricht US-Auslandskorrespondent Gregory Moore [Jean Sorel], als er in einem Prager Leichenschauhaus wieder zur Besinnung kommt. Doch leider antwortet ihm niemand, denn keiner kann ihn hören. So liegt der Ärmste nun mit Schildchen am Zeh in der Kühlkammer und beginnt sich zu erinnern, wie und warum er in diese missliche Lage geraten ist: Alles begann, als seine ebenso blutjunge wie bildschöne Verlobte Mira Svoboda [Barbara Bach] ihn in Prag besuchen kommt. Beide erleben eine Zeit der Freude. Doch plötzlich ist Mira von heute auf morgen verschwunden. Polizei und Freunde vermuten, sie könne ihn einfach im Stich gelassen haben, doch Moore will das nicht glauben, zumal er per Telefonanruf von ihr weggelockt wurde. Zudem ist Mira nicht das einzige Mädchen, das in letzter Zeit spurlos verschwunden ist. Er beginnt nun selbst nachzuforschen und befragt alle, mit denen Mira zuletzt in Kontakt stand. Dabei scheint er in ein Wespennest zu stechen. Von allen Seiten fühlt er sich plötzlich bedroht. Ein Geheimnis scheint auf der ganzen Stadt zu lasten. Zeugen haben Angst davor, zu reden, gefallen sich in vagen Andeutungen. Als schließlich ein Mörder umgeht, der allzu lästigen Zeugen ein vorzeitiges Ende bereitet, wird die Suche für Moore zum Alptraum.

Kritik:

LA CORTA NOTTE DELLE BAMBOLE DI VETRO – Die kurze Nacht der gläsernen Puppen, so lautet der wunderbar geheimnisumwitterte Original-Titel dieser leicht kafkaesk angehauchten Kriminalerzählung, dessen Bedeutung sich – wie so häufig bei italienischer Genre-Ware – nicht eindeutig aus dem Inhalt ergibt, sondern im Anschluss an den Konsum aus dem Kontext erschlossen werden muss. Der deutsche Verleih hatte für derlei Ambitionen offenbar nur wenig übrig und taufte das Werk für den Kino-Einsatz in ein auffallend schlankeres MALASTRANA um, bevor es in den Videotheken deutlich reißerischer UNTER DEM SKALPELL DES TEUFELS benannt Blutjüngern die Banknoten aus den Taschen mogeln durfte. Dabei hat Aldo Lados [→ NIGHT TRAINerstaunlich versiert auf den Weg gebrachtes Regie-Debüt mit ausschweifendem Aderlass nur wenig bis gar nichts zu tun, sondern geriert sich als angenehm-morbides Schauerstück, welches sich erfolgreich Schubladen verweigert und stattdessen Elemente verschiedener Kategorien zu einem mysteriösen Mosaik aus Unheil und Heimsuchung vermengt. Als Krimi beginnend, sich nach und nach zum Psychothriller mausernd, endet der ungewöhnliche Bastard schließlich in einem schockierenden Horrorszenario von bedrückender Botschaft und unbequemem Nachhall. Von der Bezeichnung 'Giallo' sollte sich der deutsche Abnehmer indes nicht blenden lassen, findet die Mehrzahl der in hiesigen Breitengraden dieser Gattung zugeschriebenen Zutaten hier keine Verwendung. Das Konzept MALASTRANAs geht über eine bloße Gewaltästhetisierung hinaus und lässt Handschuhe und Rasiermesser unangetastet. Auf das bewährte Bild des maskierten Meuchlers wird verzichtet; das Böse hier ist gesichtslos und hat gleichzeitig doch unendlich viele Gesichter.

Wenn Jean Sorel [→ DER SCHAKAL] als Gregory Moore auf der Suche nach seiner Verlobten Mira durch das düstere Prag wandelt, scheint dann auch jede der auftretenden Personen mindestens einmal verdächtig, etwas mit dem Fall zu tun zu haben. Schritt für Schritt setzt Moore Hinweise zusammen, fügt neue Puzzleteile ins Gesamtbild – doch je näher er der Wahrheit kommt, desto mehr umschließt ihn der Wahnsinn. Langsam, aber sicher verwandelt sich seine Umgebung in ein alptraumhaftes Panorama – und das nicht nur, weil plötzlich Jürgen Drews auf der Brücke hockt und ein Liedchen über Schmetterlinge trällert: Die Grenze zwischen Schein und Sein verschwimmt zugunsten panischer Paranoia, welche auch das Publikum zu erfassen droht. Bereits zu Beginn wird mit Urängsten gespielt: Die Vorstellung, trotz andauerndem Bewusstsein für tot befunden zu werden, hat beim Menschen schon manchen Alptraum verursacht. Der Umstand, dass das Schicksal Moores für den Zuschauer bereits besiegelt ist, man ihn in mehreren Rückblenden jedoch noch in quicklebendigem Liebestaumel erlebt, sorgt aufgrund des krassen Kontrasts für heftiges Unbehagen, welches sich immer weiter steigert, je länger man Zeuge seiner unheimlichen Reise wird. So kommen einem selbst bald Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit der Figur, stellt man sich doch irgendwann die Frage, ob Moore nicht vielleicht tatsächlich lediglich einer fixen Idee verfallen ist. Trügen ihn seine Erinnerungen? Wurde Mira gar nicht entführt? Verließ sie ihn gar aus freien Stücken? Erfährt er lediglich Fieberträume des nahenden Todes?

Auch der Betrachter wird durch solch ihm aufgezwungene Fragen Opfer geschickt eingesetzter Gedankenmanipulation, ein rein passives Erleben scheint kaum möglich. Die Auflösung schließlich hat etwas mit den Schmetterlingen zu tun, von denen in seinem Gastauftritt nicht nur der junge Jürgen Drews [→ DAS SYNDIKATin seiner drolligen Bob-Dylan-Gedächtnisnummer tiriliert, sondern die auch immer wieder Gegenstand der Dialoge werden: „Sie können nicht mehr fliegen“, röchelt der auf den Bahngleisen verendende Informant Moore noch ins Ohr, „sie lassen sie nicht mehr fliegen mit ihren Flügeln“. Mit einfachen Mitteln und sicherem Händchen gelingt es Lado (welcher auch am sorgsam durchdachten Drehbuch mitschrieb), eine ebenso gespenstische wie hypnotische Atmosphäre zu kreieren. Begleitet vom verträumt-melancholischen Score Ennio Morricones [→ TOP JOB] wird aus dem schönen Prag ein surreal anmutender, von seltsamen Gestalten und verkrüppelten Menschen bevölkerter Kosmos dunkler Vorahnungen und bedrückender Orientierungslosigkeit. Die finale Auflösung ist letztendlich als ebenso wunderbare wie erschreckende Parabel interpretierbar, bedenkt man Handlungsort und -zeit des Geschehens und macht sich zudem bewusst, was der Name der Vermissten in der Übersetzung bedeutet. MALASTRANA ist somit, sofern man gewillt ist, sich darauf einzulassen, auch als politischer Kommentar zu verstehen.

Schwächen leisteten sich die Macher kaum. Merkwürdig erscheint allenfalls, dass die Denkinhalte Moores nicht ausschließlich aus der Innenperspektive erfolgen, er sich also an Momente erinnert, bei welchen er gar nicht zugegen war. Auch ein paar reichlich abgestandene Krimi-Klischees fallen aufgrund der ansonsten vorherrschenden Unkonventionalität stärker als gewöhnlich ins Gewicht: Wenn ein Informant sich am Telefon mit der Hauptperson zwecks Übergabe wichtiger Informationen verabredet, anstatt diese einfach im selben Atemzug gleich mit durch den Draht zu schicken, muss man kein Experte sein, um den Ausgang erahnen zu können. Wer suchen will, findet auch weitere kleine Ungereimtheiten. Doch wie MALASTRANA einen so trefflich lehrt, führt Suchen auch nicht zwangsläufig zum gewünschten Ergebnis – zumal einen die Schlussszene in ihrer eiskalten Konsequenz ohnehin erst einmal kurzzeitig in Gregory-Moore-gleicher Katatonie erstarren lässt. Da hilft dann nur noch die Jürgen-Drews-Konfrontationstherapie! Und jetzt alle!:

„Why don't you let the butterflies with their brightly coloured wings fly free?“

Laufzeit: 93 Min. / Freigabe: ungeprüft

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