Montag, 15. Juli 2013

THE GRANDMASTER


JAT DOI ZUNG
China, USA 2013

Regie:
Wong Kar-Wai

Darsteller:
Tony Leung Chiu-Wai,
Zhang Ziyi,
Jin Zhang,
Chang Chen,
Wang Qingxiang,
Song Hye-kyo,
Bruce Leung Siu-Lung,
Julian Cheung



„Kung Fu. Zwei Worte. Waagerecht und senkrecht.“


Inhalt:

China, 1936: Kung-Fu-Lehrer Ip Man [Tony Leung] führt ein sorgenfreies Leben im Wohlstand. Seine Fähigkeiten bleiben nicht unbeachtet: Eines Tages kommt der alte Großmeister Gong Baosen [Wang Qingxiang] in die Stadt, um ihn zum Kampf herauszufordern. Dabei geht es Baosen nicht etwa um Hass: Er will die Fackel des Großmeisters zeremoniell an einen jüngeren, würdigen Nachfolger weiterreichen. Seiner Tochter Gong Er [Zhang Ziyi], ebenfalls eine großartige Kämpferin, missfällt die Idee allerdings: Noch nie wurde ein Mitglied der Gong-Familie im Kampf besiegt. Für sie bedeutet eine Niederlage einen nicht hinnehmbaren Gesichtsverlust. Als der Kampf zu Gunsten Ip Mans entschieden wird, fordert sie ihn ihrerseits heraus. Doch noch während ihres Kampfes mit ihm entdecken beide, wie sehr sie sich zueinander hingezogen fühlen. Sie brechen ihre Auseinandersetzung ab, verschieben die Fortführung auf einen späteren Zeitpunkt und trennen sich für viele Jahre. Als der Krieg über das Land hereinbricht, verliert Ip Man nicht nur seine Familie, sondern auch all seinen Besitz. Auch Gong Er erlebt eine Schreckenszeit, denn ihr Stiefbruder Ma San [Jin Zhang] hat sich mit den Japanern verbündet und ihren Vater ermordet. Seitdem plant sie ihre Rache. Das Schicksal führt Gong Er und Ip Man schließlich wieder zusammen.

Kritik:

Regisseur Wong Kar-Wai erwirtschaftete sich im Laufe seiner Karriere eine beachtliche Reputation für seine künstlerisch höchst wertvollen Bildstrecken, in welchen einwandfrei abgelichtete Figuren in Hotelzimmern herumstehen, um sich, von flauschigem Jazz untermalt, mit zaghaften Blicken unterdrückter Liebe sehnsuchtsvoll anzustarren. Das räumte in der Regel jede Menge Preise ab und ist auch tatsächlich sehr hübsch anzusehen, wenn es sich auch fraglos niemals den Nervenzerrer-des-Monats-Pokal ins heimische Regal stellen dürfte. Dass Wong sich dem Genre des Kampfkunstfilms widmete, war hingegen eher die Ausnahme. Gerade aus diesem Grunde jedoch stechen seine Ausflüge in die Welt der angriffslustigen Akrobatik auf erfreulich erfrischende Weise aus seinem Œuvre heraus: Wenn Wongs Charaktere, welche für gewöhnlich auf höchst geerdete Weise fühlen, leiden und lieben, sich, der Schwerkraft scheinbar entbunden, augenschmeichelnde Hand- und Fußgemenge liefern, ist das eine willkommene Abwechslung und eine gelungene Kombination aus Action und Anspruch.

THE GRANDMASTER ist nach ASHES OF TIME die zweite Exkursion Wong Kar-Wais in das Reich der anmutigen Kämpfer. Als Aufhänger diente dabei die Lebensgeschichte des Kung-Fu-Lehrers Ip Man, welcher dem Publikum spätestens seit Wilson Yips gleichnamigen Martial-Arts-Epos aus dem Jahre 2008 kein Unbekannter mehr ist: Der Patron der späteren Ikone Bruce Lee galt als Großmeister des Wing Chun und gleichzeitig Wegbereiter vieler späterer Kampfkünste. Relativ spät erst besann sich das um Legendenverklärung eifrig bemühte chinesische Kino dieser Figur, um sie dann jedoch so richtig wüten zu lassen: Nach Wilson Yips IP MAN und dessen Fortsetzung, gesellte sich alsbald noch Herman Yaus IP MAN ZERO dazu, welcher des Meisters jüngeren Jahre auf die Leinwand brachte und später ebenfalls in Serie ging. A
ll das taugte als hervorragend inszeniertes Prügelkino fraglos eine ganze Menge, war als Geschichtsstunde hingegen gänzlich unbrauchbar: Vor dem Hintergrund des zweiten chinesisch-japanischen Krieges wird Ip Man quasi zur guten Seele Chinas erklärt, zum einfachen Mann, der sich der Brutalitäten der japanischen Besatzer erwehren muss, um am Ende als überragender Held über alles und jeden zu triumphieren. Das ist zwar publikumswirksam und hochkarätig in Szene gesetzt, jedoch mehr Hirngespinst als Historie. THE GRANDMASTER, von den Spektakeln Wilson Yips und Hermann Yaus unabhängig produziert und auch bereits lange Zeit in Voraus geplant, bietet da eine überaus reizvolle Alternative, die ihre wunderbar fotografierten Kampfszenen mit einer beträchtlichen Schippe cineastischen Anspruchs verbindet. Tony Leung [→ HERO] agiert dabei in der Titelrolle wesentlich distanzierter als seine Kollegen Donnie Yen und Yu-Hang To von der Konkurrenz, was aufgrund der unterschiedlichen Herangehensweise durchaus sinnvoll erscheint.

Nahm die Kampfkunst in ASHES OF TIME noch eine eher untergeordnete Rolle ein und diente lediglich als Ausdrucksform für die Wong-typischen Inhalte wie Einsamkeit, Liebe und Erfüllung, schien der Regisseur dieses Versäumnis mit THE GRANDMASTER gründlichst nachholen zu wollen: Quasi von der ersten Sekunde an widmet Wong sein in rauschende Bilder gepacktes Hochglanzprodukt dem Wesen des Kung Fu, zelebriert es in erlesenen Aufnahmen, feiert dessen Philosophie, vergöttert dessen Existenz. „Was mein Vater mich lehrte, war nicht die Technik, sondern der Gedanke, der dahinterstand“, lautet dann auch treffenderweise eines der wichtigsten Zitate (ausgesprochen von Zhang Ziyis Charakter Gong Er). Bereits wenige Minuten nach Beginn entfesselt eine bis ins kleinste Detail durchstilisierte Kampfsequenz einen wahren Rausch der Ästhetik, welcher auch bis zum Ende nicht mehr so recht aufhören möchte. Wong spielt seine Stärken perfekt aus und serviert bombastische Bildgefüge, für welche die Leinwand quasi erfunden zu sein scheint. Kein Wimpernzucken mutet zufällig an, jede Geste, jedes Wort ist Teil einer streng durchkalkulierten, hochkonzentrierten Komposition. Dass dabei auf bewährte ästhetische Mittel zurückgegriffen wird, mag nicht einfallsreich sein, dafür aber effektiv: Gekämpft wird wahlweise bei strömendem Regen, in vereister Schneelandschaft oder vor einen rasenden Güterzug – Szenen purer Kinetik, die einen, in ihrem dynamischen Wechsel aus Geschwindigkeit und Zeitlupe, Totale und Detailaufnahme, das Luftholen teilweise vergessen lassen.

Dass THE GRANDMASTER dennoch eine Abkehr brutaler Prügelarien darstellt, versteht sich von selbst: Hier werden Herzen gebrochen statt Knochen und anstelle von Blut fließen Tränen. Denn trotz allem bleibt es halt doch ein Werk Wong Kar-Wais, dessen Charaktere eben keine realitätsfernen Kampfstiere sind, sondern emotionsbefähigte Menschen aus Fleisch und Blut. Da wird eine Auseinandersetzung zwischen Mann und Frau schon mal zum knisternden Quasivorspiel in der Schwerelosigkeit, während an anderer Stelle ein Kampf voller Ehrerbietung vorzeitig abgebrochen wird, sollte die Überlegenheit des Gegners erkannt sein. 
Im Hintergrund zog dabei einmal mehr Choreographie-Großmeister Yuen Woo-Ping [→ TRUE LEGEND] die Strippen – im wahrsten Sinne des Wortes, denn die Protagonisten fliegen auch hier effektiv am Drahtseil durch die Landschaft. Das Ergebnis mag sich in seiner physikalischen Unmöglichkeit etwas beißen mit der seriösen Attitüde, sieht jedoch nach wie vor großartig aus. So wird der Sehnerv durchgehend angenehm gekitzelt; eine akribisch genaue Biographie des Lebens Ip Mans jedoch bleibt auch Wong Kar-Wai schuldig. THE GRANDMASTER liefert lediglich Momentaufnahmen und erlaubt sich unter Umständen schon mal gewaltige Zeitsprünge. Selbst ein solch wichtiger historischer Einschnitt wie der Angriff Japans auf China erfährt nur eine nebensächliche, wenn auch äußerst effektvoll umgesetzte Abhandlung (was natürlich auch einen Verzicht auf das klassische Feindbild bedeutet, welches Wong Kar-Wai ohnehin nicht unterstützt hätte). Tatsächlich wird Ip Man als vermeintlicher Hauptprotagonist nach geraumer Zeit sogar zunächst im Stich gelassen, um sich weiteren Charakteren zu widmen.

Vor allem liegt der Schwerpunkt dabei auf Gong Er, die anfängliche Kontrahentin, spätere heimliche Liebe Ip Mans, gewohnt blassnäsig, doch überaus einnehmend verkörpert von Zhang Ziyi [→ DIE GEISHA], die als zierlicher Racheengel einige große Momente für sich verbuchen darf. So lehnt sie, gierig nach Vergeltung für den Tod ihres Vaters, alle guten Zurufe, allein der Himmel habe über das Schicksal des Mörders zu entscheiden, energisch ab: „Vielleicht bin ich die Rache des Himmels!“, entgegnet sie lautstark und verlässt mit entschlossenem Blick die Versammlung. Neben Verräter und Vatermörder Ma San [Jin Zhang (→ DAS KÖNIGREICH DER YAN)], ist der Auftragsmörder „Rasiermesser“ [Chang Chen (→ TIGER & DRAGON)] die vierte wichtige Figur, welcher Wong Kar-Wai sich widmet. Recht plötzlich eingeführt und fast ebenso schnell wieder fallengelassen, lässt es sich jedoch vermuten, dass ein Großteil seiner Geschichte auf dem Boden des Schneideraums gelandet ist. Hätte er nicht ebenfalls eine großartige Kampfszene, wäre man sogar fast versucht zu behaupten, dass man auf den Charakter ebensogut hätte verzichten können. Dennoch ist 
ist klar, worauf Wong hinauswollte: Jede einzelne Figur verkörpert einen Aspekt des Kung Fu. Jede Figur muss sich entscheiden, wie und wieso sie ihre Fähigkeiten einsetzt. Im Effekt ergibt das ein überaus komplexes Mosaik über das Wesen der Kampfkunst und ihre verschiedenen philosophischen Blickwinkel. Und am Ende stehen sich Ip Man und Gong Er wieder gegenüber, um sich mit zaghaften Blicken unterdrückter Liebe sehnsuchtsvoll anzustarren. Doch wirkt das darauf folgende Lippenbekenntnis weder albern, noch banal, sondern gehört zu den berührendsten Dialogzeilen, die man in einem Martial-Arts-Film zu hören bekommen kann. 

THE GRANDMASTER setzt erfolgreich das fort, was Ang Lee und Zhang Yimou einst mit TIGER & DRAGON und HERO begannen: Die Verknüpfung des einst ausschließlich als primitiver Gewalttumult verschrieenen Kung-Fu-Films mit den höheren Weihen des Arthouse-Kinos. Das Ergebnis ist ein eindrucksvoller, in gleißend-goldgelbes Licht getauchter, perfekt montierter und choreographierter Sinnesrausch, der Freunde ästhetischer Bildgestaltung in die Hände klatschen lässt. 
Nur der gewinnt, der stehenbleibt“, erklärt Tony Leung als Ip Man die Regeln des Kung Fu. THE GRANDMASTER steht noch.

Laufzeit: 120 Min. / Freigabe: ab 12

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