Eigene Forschungen

Sonntag, 10. März 2019

ACCIDENT


YI NGOI
China 2009

Regie:
Soi Cheang

Darsteller:
Louis Koo,
Richie Ren,
Stanley Fung,
Michelle Ye Xuan,
Lam Suet,
Monica Mok,
Chan Mong-Wa,
Lai Cheung-Wing



„Lass es wie nen Unfall aussehen!“, ist ein Satz, den man ständig in Mafia- und anderen Gangsterfilmen zu hören bekommt und der aufgrund seiner häufigen Verwendung im Laufe der Zeit ironischen Charakter bekam. 2009 hat Hongkong-Regisseur Soi Cheang die Phrase gänzlich unironisch verfilmt.

Inhalt:

Ho Kwok Fai [Louis Koo] und sein Team sind Auftragsmörder. Allerdings legen sie sich nicht etwa mit Munition und Zielfernrohr auf die Lauer. Sie erschaffen Unglücksfälle. Ihre Opfer sterben beim Autounfall, im Scherbenregen oder per Stromschlag, und nichts und niemand deutet im Anschluss darauf hin, dass hier tatsächlich Menschenhand am Werke war. Sie sind absolute Profis, wissen aber auch, dass die kleinste Unachtsamkeit sie ans Messer liefern könnte. In letzter Zeit allerdings häufen sich merkwürdige Zwischenfälle: In Hos Wohnung wird eingebrochen. Ein ehemaliger Klient stürzt aus dem Fenster eines Hochhauses. Und Teammitglied 'Fatty' [Lam Suet] stirbt auf offener Straße, als er unter die Räder eines auf unerklärliche Weise außer Kontrolle geratenen Busses gerät. Da Ho weiß, dass sie nicht die einzigen in diesem Gewerbe sind, glaubt er weder an Un- noch an Zufälle und beginnt nachzuforschen. Verdächtig macht sich zunächst der undurchsichtige Versicherungsagent Fong Chau [Richie Ren]. Doch schon bald kann Ho auch seinem eigenen Team nicht mehr vertrauen.

Kritik:

ACCIDENT entstand unter der Schirmherrschaft des einflussreichen Produzenten Johnny To, der als Regisseur stilistisch herausragender Action-Opern wie FULLTIME KILLER, EXILED oder VENGEANCE berühmt wurde. Und das merkt man auch. Soi Cheang, der zuvor rabiate Gewaltstreifen wie DOG BITE DOG oder SHAMO auf den Weg brachte, legte den dreckigen Duktus hier komplett ab und orientierte sich stattdessen am präzisen Inszenierungsstil seines Produzenten. Das passt natürlich perfekt zur Story der ungewöhnlichen Killertruppe, die in analytischer Feinarbeit komplexe Kettenreaktionen konstruiert, um ihre Opfer ins Jenseits zu befördern. Bereits die fiebrige Eröffnung nimmt einen auf Anhieb gefangen: Auf den überfüllten Straßen Hongkongs herrscht Chaos. Auto steht an Auto, der liegengebliebene Wagen einer jungen Frau blockiert den Verkehr, alles hupt und schwitzt und schimpft. Ein Mann weicht genervt in eine Nebenstraße aus, ein Transparent löst sich von der Häuserfassade, fällt mit einem Ende auf die Windschutzscheibe. Der Fahrer steigt fluchend aus und zerrt an dem Ding – woraufhin sich ein an der Häuserwand gespanntes Drahtseil lockert und durch eine Fensterscheibe jagt. Es regnet Scherben – und der Asphalt färbt sich rot vor Blut.

Nur für den Zuschauer wird kurz darauf klar, dass nichts von diesen Ereignissen Zufall war – weder die Autopanne der jungen Frau, noch das Herunterfallen des Transparents und erst recht nicht das scheinbar so unglücklich platzierte Seil, das zum tödlichen Glasregen führte. Alles war Teil eines perfide geplanten und perfekt praktizierten Mordprozesses. Das vierköpfige Team um Stratege und Chefdenker Ho Kwok Fai wird eingeführt als eine Art Impossible Mission Force des Tötens, als intellektuelles Killer-Kollektiv, das seine Anschläge mit architektonischer Genauigkeit gestaltet und ausführt. Die kompliziert erdachten Ereignisfolgen, die schließlich zum Ableben der Zielperson führen, erinnern dabei in ihrer Machart an die fatalen Dominoeffekte der FINAL DESTINATION-Reihe, die freilich dem fantastischen Genre verschrieben ist und in welcher der Tod noch höchstpersönlich die Strippen zieht: Eine Bagatelle bedingt die nächste, mehrere kleinere Komplikationen verdichten sich, bis sich am Ende alles summiert und das Geschehen in einer blutigen Katastrophe mündet. ACCIDENT verschweigt nicht, wie viel Geduld es braucht, einen derartigen Plan in die Tat umzusetzen. Lange Zeit sieht man dem Team bei der Ideenfindung zu, bei der Abwägung der Möglichkeiten, der Suche nach Alternativen, der Schaffung idealer Voraussetzungen und nicht zuletzt bei mehreren vergeblichen Versuchen der Ausführung, da sich manch notwendige Bedingung zum reibungslosen Ablauf eben nicht so einfach durch Menschenhand herbeizaubern lässt. Das ist fesselnd und faszinierend umgesetzt und lädt ein zu philosophischen Gedankenspielen über Zufall, Schicksal und Fügung im Leben eines Menschen.

Der Wind dreht sich, als es im Laufe der Handlung zu Todesfällen kommt, die nicht von der Accident-Crew initiiert wurden. Stand bis dahin noch die Teamarbeit im Fokus, verlagert sich der Schwerpunkt nachfolgend auf den Kopf der Bande - auf Ho Kwok Fai, dargestellt von stets zuverlässigen Louis Koo [→ TRIANGLE]. Dieser glaubt nicht daran, dass das gewaltsame Ableben seines Freundes und Kollegen Fatty auf einem ordinären Unglück basiert. Für ihn ist klar, dass es noch mehr Menschen gibt, die des verborgenen Mordens mächtig sind, dass man sie mit ihren eigenen Waffen schlagen und Stück für Stück dezimieren will. Hier wechselt ACCIDENT sanft die Schiene und wird nach und nach zum düsteren Paranoia-Thriller, der auch das Publikum ins Gebet nimmt. Denn ebenso wie Ho fragt sich auch der Konsument nach einer Weile, ob er lediglich einem Phantom hinterherjagt oder am Ende doch Recht behält mit seinen Ahnungen und Befürchtungen. Kameramann Fung Yuen-Man [→ COLOUR OF THE TRUTH] unterstützt diesen Prozess bestmöglich und hat das Geschehen visuell jederzeit voll im Griff. Zu Beginn bestechen die Bilder durch konzentrierte Kompositionen und versinnbildlichen damit die Akribie, die für die Protagonisten ja notwendig ist, um ihre Tötungen in die Tat umsetzen zu können. Später, als Ho sich auf der Suche nach Antworten befindet und sein Geist mehr und mehr verwirrt wird, werden die Bilder unaufgeräumt und konfus – geradezu ikonisch erscheint in dem Zusammenhang die Aufnahme von Hos Wohnung, gespickt mit Hinweiszetteln und Notizen, die notdürftig mit Pfeilen und Linien verbunden wurden, um eine (womöglich gar nicht vorhandene) Ordnung ins Chaos zu bringen.

Auf diese Weise entfaltet ACCIDENT eine beachtliche Sogwirkung, welche bis zur niederschmetternden Schlussszene anhält und das Spannungsbarometer konsequent oben hält. Wer unbedingt Haare in der Suppe suchen möchte, der könnte zu Recht anmerken, dass das Gelingen der Mordanschläge entgegen inhaltlicher Behauptung immer noch von zu vielen Zufällen und Eventualitäten abhängig, sprich: schlichtweg unglaubwürdig ist. Und auch über die restlichen Teammitglieder hätte man gern ein wenig mehr erfahren als nur, dass sie halt eben auch mit dabei sind. Aber im Großen und Ganzen sind das Kleinigkeiten, die nicht weiter ins Gewicht fallen. Natürlich sollte man nicht den Fehler begehen, aufgrund des Sujets und vorherigen Œuvres von Regie und Produktion einen Action-Reißer zu erwarten (umso fataler, dass tatsächlich ein Plakatmotiv existiert, auf dem Nebendarsteller Richie Ren mit der Waffe herumfuchtelt). Hier wird mit Köpfchen gekämpft statt mit Kugeln, und wirklich herber Blutverlust ist ebenfalls nicht zu verzeichnen (auch wenn kleine fiese Schocks das ansonsten eher gemütliche Tempo immer mal wieder unterbrechen). Am Ende ist ACCIDENT eine äußerst geglückte Killer-Thriller-Variante mit cleverem Skript und vorzüglicher Umsetzung. Definitiv kein Unfall!

Laufzeit: 87 Min. / Freigabe: ab 16

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