China 2024
Regie:
Cheang Pou-Soi
Darsteller:
Raymond Lam Fung,
Sammo Hung Kam-Bo,
Louis Koo Tin-Lok,
Richie Ren Xian-Qi,
Terrance Lau Chun-Him,
Kenny Wong Tak-Ban,
Philip Ng Wan-Lung,
Aaron Kwok Fu-Sing
Wer das Action-Epos TWILIGHT OF THE WARRIORS – WALLED IN, so der internationale Titel von CITY OF DARKNESS, völlig unbefangen schaut, wird wohl kaum glauben können, dass dessen spektakulärer Schauplatz einst tatsächlich existierte. Die spätere „Kowloon Walled City“ wurde bereits während der Song-Dynastie (960 bis 1279) als Militärposten geschaffen und wuchs über Jahrhunderte zu einer Festung heran, die selbst nach der Abtretung Hongkongs an Großbritannien im Jahr 1842 ein Symbol chinesischer Souveränität blieb. Nachdem während des Zweiten Weltkriegs ihre schützenden Mauern doch noch eingerissen wurden, strömten Scharen von Menschen auf der Flucht vor dem chinesischen Bürgerkrieg in die verlassene Enklave und ließen sie zu einem anarchischen Mikrokosmos heranwachsen. Da keine Regierung Interesse anmeldete, übernahmen in den 1950er-Jahren die Triaden die Kontrolle und verwandelten die Stadt in einen Hort von Glücksspiel, Prostitution und Opiumhöhlen. Auf engstem Raum entstanden zahllose Werkstätten, Kliniken und Wohnungen – ein eigenes Ökosystem, das ohne Rücksicht auf Bauvorschriften oder Infrastruktur förmlich in den Himmel wuchs und zeitweise als am dichtesten besiedelter Ort der Welt geführt wurde. 1987 wurde beschlossen, die Stadt abzureißen. Nach einem schwierigen Räumungsprozess verschwand dieses einzigartige Bollwerk menschlicher Überlebenskunst bis 1994 vollständig.
Wenn man das Hongkong-Kino liebt, dann ist einem die Walled City womöglich bereits begegnet. So stellten die Shaw Brothers 1982 beispielsweise die BROTHERS FROM THE WALLED CITY vor und zwei Jahre später diente sie mehreren Gangstern als Zufluchtsort vor THE LONG ARM OF THE LAW. Auch Jackie Chan prügelte sich 1993 in seiner CRIME STORY durch die realen Kulissen der verlassenen Mauerstadt, die zu diesem Zeitpunkt kurz vor der Einebnung stand. Aber so wie in CITY OF DARKNESS wurde sie zuvor noch niemals präsentiert. Mittels Nachbauten und Computergraphiken holte man die Örtlichkeit zurück ins Leben, präsentiert als monolithischen Moloch, der - obwohl von der damaligen Realität gar nicht allzu weit entfernt – wirkt, als habe man Frank Millers Sin City mit J. R. R. Tolkiens Mordor zusammen in den Mixer geworfen. Ohne Frage ist der Schauplatz dann auch der eigentliche Hauptdarsteller von CITY OF DARKNESS, ein gigantisches, dauerbewegtes Labyrinth, an dem man sich nicht sattsehen kann und möchte, unzählige übereinandergestapelte und ineinander verschachtelte Elendsquartiere, ein wuselndes Wimmelbild aus Wasserrohren, Wäscheleinen und Winkelgassen, bei dem man stellenweise nicht weiß, wo unten und wo oben ist, weil alles ineinanderfließt und nur als Einheit zu existieren scheint. Und diese pittoreske Kulisse bietet die Bühne für akrobatische Auseinandersetzungen aller Art, meist über mehrere Stockwerke hinweg, wobei die Steigungen von den Kämpfenden teils per Motorrad überwunden werden, oft jedoch, wie im Martial-Arts-Genre nicht unüblich, auch per purer Muskelkraft und Körperbeherrschung.
Der Plot, den man in diese Mauern pflanzte, basiert auf dem gleichnamigen Roman von Yu Wing Leung und bedient sich den üblichen Versatzstücken des Gangster-Genres, die jedoch sinnstiftend mit der gewählten Lokalität verwoben werden.
Inhalt:
1980er Jahre: Chan Lok-Kwan [Raymond Lam], ein Flüchtling vom Festland, ist illegal in Hongkong und hält sich mit brutalen Untergrundkämpfen über Wasser. Um sein Leben zu verbessern, will er einen gefälschten Ausweis kaufen, wird jedoch von Mr. Big [Sammo Hung], einem lokalen Syndikatsboss, hintergangen. In einer verzweifelten Kurzschlussreaktion klaut Chan ihm einen Beutel mit Drogen und sucht das Weite. Obwohl Bigs Schergen sofort die Verfolgung aufnehmen, kann er ihnen nach intensivem Schlagabtausch entkommen – und strandet schließlich in der Walled City, einem von der Außenwelt abgeschirmten Sperrgebiet, in dem eigene Gesetze gelten. Kaum angekommen, erweckt er das Interesse des freundlichen Friseurs Cyclone (in der deutschen Fassung: Tornado) [Louis Koo], einem der heimlichen Anführer des Gebiets, der ihm bedingungslos Obdach gewährt. Obwohl zunächst nur als vorübergehende Zuflucht geplant, wird die Walled City für Chan zum neuen Zuhause, erfährt er unter den Bewohnern trotz aller Anarchie eine bis dahin nie erlebte Solidarität. Doch dann geraten Chan und seine Vertrauten in die Mühlräder von Rachlust, Gier und Politik – denn das Ende der Stadt ist längst beschlossen.
Kritik:
Fast könnte man meinen, dass sich CITY OF DARKNESS ein wenig zu viel aufbürdet, denn an Ambition mangelt es ihm nicht. Zum einen, das ist das Offensichtlichste, will er natürlich ein Actionfilm sein, und das ist er freilich auch. Im Fokus stehen die Geschwindigkeit, die hier mehrfach zelebriert wird, wenn man sich z. B. durch dafür eigentlich viel enge, dunkle Gassen hetzt, und die Kampfkunst, die, dem Genre gehorchend, als nahezu einziges Kommunikationsmittel zur Konfliktaustragung aus den Menschen herauszubrechen scheint. Manchmal wird auch beides kombiniert, wenn man sich – in einer der wenigen Sequenzen, die außerhalb abschirmender Mauern stattfinden – in und auf einem fahrenden Bus beharkt und dabei auch durch splitternde Scheiben scheucht. Gleichzeitig gebärdet man sich auch als großes Gangsterepos, das über mehrere Jahrzehnte hinweg mit ausladendender Geste von Schuld und Sühne erzählt. Vor allem aber ist CITY OF DARKNESS ein Endzeitfilm. Denn die Welt, von der er erzählt, ist dem Untergang geweiht. Das ist keine Drehbuchfantasie: 1994 war der Ort von der Karte verschwunden. Der apokalyptische Überzug kommt also nicht von ungefähr: Sämtliche Figuren taumeln am Rande des Abgrunds, über alles und jedem hängt die Aura des Vergänglichen. Doch die Leute verzweifeln nicht. Es passt nicht zu ihnen. Bisher haben sie noch aus jeder misslichen Lage einen Ausweg gefunden. Deswegen sind sie hier.
Von Außenstehenden als Stigma der Stadt gebrandmarkt, erscheint die Walled City in Wahrheit als alternativer Lebensentwurf, als ein Refugium, das Armen und Ausgestoßenen die Möglichkeit einer nonkonformistischen Existenz bietet. Als Chan Lok-Kwan nach (zugegebenermaßen) hartem Empfang angeschlagen über die Straße stolpert, reichen ihm durchs Fenster plötzlich helfende Hände Speis und Trank. Sie gehören zu einem Kind, einem kleinen Mädchen, das – im Gegensatz zur Hauptfigur Chan, die hier noch neu ist – Teil dieses Räderwerks ist und in souveräner Selbstverständlichkeit weiß, wie alles funktioniert und man sich zu verhalten hat. Es ist ein Ort ohne Gesetze, aber nicht ohne Regeln. Diese starke Romantisierung realer Begebenheiten könnte man den Autoren gewiss zum Vorwurf machen. Aber zum einen wird die Anwesenheit von Gewalt nicht verschwiegen (da wird eine Prostituierte mit zerschmettertem Schädel aufgefunden – ihr letzter Freier hatte wohl schlechte Laune). Und zum anderen erhebt CITY OF DARKNESS zu keiner Sekunde den Anspruch, ein authentisches Abbild von irgendetwas zu sein. Spätestens im Finale, wenn manch Gegner regelrecht übernatürliche Kräfte entwickelt und die Gesetze der Physik lediglich Vorschläge werden, ist klar, dass man doch nur eine Art von Superhelden-Comic vor sich hat. Zwar deutlich mehr der Wirklichkeit verpflichtet als z. B. die X-MEN, aber eben doch nur Fiktion.
Für Freunde anspruchsvoller Kampfkunst-Unterhaltung ist CITY OF DARKNESS wahrlich ein Fest. So hoch die Ambitionen der Macher auch gewesen sein mögen, das Ergebnis gereicht zur Ehre und platzt vor Energie und Leidenschaft fast aus allen Nähten. Die Story an sich ist nichts Besonderes, es geht um das Übliche: Rache, Rivalität und Macht. Sonderlich geschickt erzählt ist sie auch nicht; die Mehrheit der etablierten Konflikte wird später auf brutale Weise null und nichtig. Dennoch haben Cheang Pou-Soi [→ DOG BITE DOG] und seine Autoren ein wuchtiges, vibrierendes, bemerkenswertes Stück Kino erschaffen. Zwischen flackerndem Neonlicht und düsteren Gassen erspinnt sich eine dampfgeschwängerte Dystopie, die den turbulenten Zeitgeist des Hongkongs der 1980er Jahre wieder aufleben lässt. CITY OF DARKNESS ist der Kommentar zu den tiefgreifenden Umbrüchen, die der Abriss der Walled City mit sich brachte, und atmet damit auch den unsteten Geist des Filmschaffens jener Zeit, das aufgrund der bevorstehenden Übergabe der Kronkolonie an China von der Angst vor dem Verlust der eigenen Identität geprägt war. Die Mitwirkung Sammo Hungs [→ RISE OF THE LEGEND], einem der bedeutsamsten Darsteller jener „goldenen Ära“, trägt diesem Umstand Rechnung. Mit Louis Koo [→ DRUG WAR] und Aaron Kwok [→ COLD WAR] sind zudem noch zwei weitere verdiente Hochkaräter des Hongkong-Kinos an Bord. Nur, dass für relevante Frauenrollen offenbar kein Platz mehr war, ist zu bedauern.
Laufzeit: 125 Min. / Freigabe: ab 16
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