Eigene Forschungen

Samstag, 18. November 2017

TOTE ZEUGEN SINGEN NICHT


LA POLIZIA INCRIMINA, LA LEGGE ASSOLVE
Italien 1973

Regie:
Enzo G. Castellari

Darsteller:
Franco Nero,
James Whitmore,
Delia Boccardo,
Fernando Rey,
Duilio Del Prete,
Silvano Tranquilli,
Ely Galleani,
Daniel Martín



„Dieses Mal werden Sie sich auf die Polizei nicht verlassen können. Wenn sie Sie nicht kriegen können, kriegen sie die, die Ihnen nahe stehen, die Sie lieben.“


Inhalt:

In Genua ist die libanesische Drogenmafia auf dem Vormarsch. Kommissar Belli [Franco Nero] ermittelt energisch gegen die Hintermänner. Sein Objekt der Begierde ist der „Libanese“, der sich als Kurier für das Syndikat verdingt und der Polizei daher wertvolle Informationen liefern könnte. Endlich, nach monatelanger Planung, kann Belli den Mann nach einer halsbrecherischen Verfolgungsjagd festnehmen. Doch die Freude über den Erfolg währt nicht lang: Noch bevor das Polizeiauto samt Gefangenem das Revier erreicht, wird es in die Luft gesprengt. Belli selbst entkommt dem Flammentod dabei nur durch puren Zufall. Mehr denn je legt er es nun darauf an, an die Drahtzieher heranzukommen und redet energisch auf seinen Vorgesetzten Scavio [James Whitmore] ein. Dieser hat über Jahre hinweg wichtige Informationen gesammelt, die er allerdings gezielt zurückhält, bis die Beweise zum großen Gegenschlag ausreichen. Auf Bellis Drängen hin beschließt er, die Akten vorzeitig freizugeben. Sein Todesurteil! Scavio wird auf offener Straßen ermordet, die Beweise werden gestohlen. Zwar gelingt es Belli, den Attentäter ausfindig zu machen, doch damit bringt er nun seine Familie in Gefahr. Es beginnt ein Kampf und Leben und Tod.

Kritik:

In den 70er Jahren entwickelte sich der italienische Polizeifilm quasi zu einem eigenen Genre. Inspiriert von Don Siegels Reißer DIRTY HARRY sowie realen Ereignissen (blutige Ausschreitungen auf offener Straße standen, vor allem in Palermo, damals an der Tagesordnung) ersannen die Drehbuchautoren einen ganzen Bau voller skrupelloser Selbstjustiz-Bullen, die sich mit ganzer Härte und vollem Körpereinsatz gegen das grassierende Unrecht zur Wehr setzten – und damit ironischerweise selbst zu einem Rädchen im Gewalt-Getriebe wurden. Der 1973 fertiggestellte TOTE ZEUGEN SINGEN NICHT gehört noch zu den früheren Vertretern dieser Gattung, was man ihm rückwirkend auch anmerkt, bleibt man hier inhaltlich doch überwiegend auf dem Teppich. Wo ein Maurizio Merli später in vollkommen überspitzten Gassenhauern wie DIE GEWALT BIN ICH bereits Maulschellen verteilte, bevor er überhaupt „Guten Tag“ gesagt hatte, erscheint Franco Neros Kommissar Belli noch ausreichend bodenständig und gesetzeskonform, um nicht zu einer Karikatur zu verkommen. Trotz des nicht zu leugnenden Schwerpunkts auf Kinetik und Krawall schafft das rüde Spektakel daher dennoch den schwierigen Spagat zwischen Action und Anspruch und besticht durch eine geerdetere und realistischere Herangehensweise. Autor und Regisseur Enzo G. Castellani [→ TÖTE ALLE UND KEHR ALLEIN ZURÜCK] verband publikumswirksame, zum Teil freilich nicht unspekulativ ausgeschlachtete Sensationseffekte mit der anklagenden Attitüde eines Damiano Damiani, der zeitgleich versuchte, mit gesellschaftskritischen Thrillern wie DER CLAN, DER SEINE FEINDE LEBENDIG EINMAUERT (1971, ebenfalls mit Franco Nero in der Hauptrolle) wachzurütteln.

Dass es dabei nicht gerade zimperlich zugeht, liegt in der Natur der Sache. TOTE ZEUGEN SINGEN NICHT portraitiert die Mafia nicht romantisch-verklärt, wie viele Mitbewerber, sondern als völlig außer Kontrolle geratene Bande vollkommen skrupel- und ehrloser Berserker, die ohne Rücksicht auf Verluste rumholzen, dass sich die Balken biegen. Da wird aus nichtigstem Anlass lieber mal einer zu viel zur Hölle geschickt als einer zu wenig und der Tod kleiner Kinder dabei achselzuckend unter Kollateralschaden verbucht. Es werden keine raffinierten Pläne mehr ausgetüftelt, sondern der Weg des geringsten Widerstandes gewählt. Da werden Sprengsätze gelegt oder Widersacher auf offener Straße wahlweise erschossen oder überrollt. Ein effektiver Schutz scheint ob dieser Ruchlosigkeit schlichtweg nicht mehr existent. In einer noch recht frühen Szene besucht der gebeutelte Kommissar Belli den alternden Mafiaboss Cafiero (klischeehaft, aber effektiv verkörpert von Fernando Rey), der sich mittlerweile aus dem Geschäft zurückgezogen hat, um seinen Lebensabend der Blumenzucht zu widmen. Dieser warnt den Kommissar, dass die Regeln sich geändert und längst neue Leute die Bühne des Organisierten Verbrechens betreten haben, deren Brutalität alles bisher Bekannte übersteigt.

Spätestens hier wird auch dem Publikum klar, dass ein rechtsstaatlicher Weg, das Unheil auszuräumen, nicht funktionieren kann. Dass Kommissar Belli am Ende dennoch nicht, wie es vielleicht zu erwarten wäre, zur Charles-Bronson-artigen Kampfmaschine mutiert, die sich ohne Rücksicht auf Verluste durch seine Gegner pflügt, beweist, dass es Castellari nicht daran gelegen war, lediglich eine simple Jahrmarktsattraktion abzuliefern, sondern durchaus das nötige Maß an Frustration und Wut in seine Arbeit legte. Dass im Finale dennoch ordentlich die Fetzen fliegen, freut den gemeinen Actionfreund natürlich. Überhaupt legt TOTE ZEUGEN SINGEN NICHT ein enormes Tempo vor und beglückt den Zuschauer bereits in der Eröffnung mit einer zünftigen Verfolgungsjagd. Zwar weiß man zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht genau, worum es eigentlich geht, der Puls wird nichtsdestotrotz anständig in die Höhe getrieben. Die gebotenen Hetzjagden und Bleigewitter sind allesamt auf der Höhe ihrer Zeit und müssen sich hinter ihren mit mächtig Budget realisierten amerikanischen Pendants wahrlich nicht verstecken. Dazu gesellt sich die bewährte italienische Radikalität, die das Geschehen immer wieder mit kleinen Sadismen würzt (die man aus der damaligen deutschen Kinofassung dann pflichtbewusst auch gleich wieder entfernt hat). So werden auch mal durchaus wertvolle Körperteile entfernt oder Schürhaken effektiv zweckentfremdet, um den Gegner das Fürchten zu lehren.

Ausfälle erlaubt sich TOTE ZEUGEN SINGEN NICHT kaum. Franco Nero kratzt mit seinem Spiel zwar hin und wieder mal an der Grenze zur Übertreibung, aber hier hat man es halt mit großem Kino zu tun, da gehört ein bisschen Theatralik eben auch dazu. Und dass ein Kommissar aus Italien quasi auch mühelos durch Genua und Marseille toben darf, ohne dabei irgendwelche Kompetenzen zu überschreiten, kauft man da ebenfalls gleich mit, zumal die verschiedenen Schauplätze auch für ein angenehmes internationales Flair sorgen. Auch an der Besetzung gibt es nichts zu kritteln. Natürlich wird das Szenario ohne jede Frage von Franco Nero beherrscht (der hier nur zufällig denselben Namen trägt wie in seiner Rolle als zwielichtiger Bulle in DIE KLETTE), aber auch die kleineren Rollen sind wunderbar besetzt. Fernando Rey als pensionierten Paten zu besetzen war eine ebenso raffinierte wie effektive Idee, war seine Darstellung als hassenswerter Antagonist in dem Action-Meilenstein FRENCH CONNECTION damals doch noch allzu gut im Gedächtnis. Und als vielleicht bester Casting-Coup erweist sich James Whitmore [→ DIE VERURTEILTEN], der als Bellis Vorgesetzter Scavio, stets zwischen Pflichtbewusstsein, Furcht und Verzweiflung pendelnd, eine Glanzleistung aufs Parkett legt. Das weibliche Personal hat, wie so oft im italienischen Machokino, eher das Nachsehen und darf keine großen Akzente setzen. Als Kommissar Bellis Freundin sieht man Delia Boccardo [→ DIE KILLERMAFIA], die nicht viel zu tun hat, das dafür aber gut macht, und deren gemeinsamen Nachwuchs gibt die Regisseurstochter Stefania Girolami Goodwin [→ THE RIFFS], die aufgrund ihrer Plietschigkeit (und deutschen Synchronstimme) ein wenig nervig rüberkommt, aber das ist mehr oder minder schnell vorbei.

Summa summarum ist TOTE ZEUGEN SINGEN NICHT ein echtes Brett. Zwar hat man es hier wider Erwarten nicht mit einem amoklaufenden Franco Nero zu tun, sondern eher mit einem, der aus lauter Verzweiflung über seine Impotenz im Angesicht des Verbrechens fast vor die Hunde geht, Freunde ruppiger Action kommen dennoch voll und ganz auf ihre Kosten. Castellari kreierte eine gesunde Mischung aus Gesellschaftskritik und reißerischen Effekten und schafft es somit, gleich mehrere Parteien zufriedenzustellen. Da ist man gern Zeuge.

Laufzeit: 102 Min. / Freigabe: ab 18 

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