Italien, BRD 1971
Regie:
Aldo Lado
Darsteller:
Jean Sorel,
Barbara Bach,
Mario Adorf,
Ingrid Thulin,
Fabijan Sovagovic,
José Quaglio,
Relja Bašić,
Piero Vida
Inhalt:
„Tot? Ich – tot? Unmöglich! Ich lebe! Seht ihr nicht, dass ich lebe?“
So
spricht US-Auslandskorrespondent Gregory Moore [Jean Sorel], als er in
einem Prager Leichenschauhaus wieder zur Besinnung kommt. Doch leider
antwortet ihm niemand, denn keiner kann ihn hören. So liegt der Ärmste nun mit Schildchen am Zeh in der Kühlkammer
und beginnt sich zu erinnern, wie und warum er in diese missliche Lage
geraten ist: Alles begann, als seine ebenso blutjunge wie bildschöne Verlobte Mira
Svoboda [Barbara Bach] ihn in Prag besuchen kommt. Beide erleben eine
Zeit der Freude. Doch plötzlich ist Mira von heute auf morgen
verschwunden. Polizei und Freunde vermuten, sie könne ihn einfach im
Stich gelassen haben, doch Moore will das nicht glauben, zumal er per
Telefonanruf von ihr weggelockt wurde. Zudem ist Mira nicht das einzige
Mädchen, das in letzter Zeit spurlos verschwunden ist. Er beginnt nun selbst nachzuforschen und befragt alle, mit denen Mira
zuletzt in Kontakt stand. Dabei scheint er in ein Wespennest zu stechen. Von allen Seiten fühlt er sich plötzlich bedroht. Ein
Geheimnis scheint auf der ganzen Stadt zu lasten. Zeugen
haben Angst davor, zu reden, gefallen sich in vagen Andeutungen. Als
schließlich ein Mörder umgeht, der allzu lästigen Zeugen ein vorzeitiges
Ende bereitet, wird die Suche für Moore zum Alptraum.
Kritik:
LA CORTA NOTTE DELLE BAMBOLE DI VETRO – Die kurze Nacht der gläsernen Puppen, so lautet der wunderbar geheimnisumwitterte Original-Titel dieser leicht kafkaesk angehauchten Kriminalerzählung, dessen Bedeutung sich – wie so häufig bei italienischer Genre-Ware – nicht eindeutig aus dem Inhalt ergibt, sondern im Anschluss an den Konsum aus dem Kontext erschlossen werden muss. Der deutsche Verleih hatte für derlei Ambitionen offenbar nur wenig übrig und taufte das Werk für den Kino-Einsatz in ein auffallend schlankeres MALASTRANA um, bevor es in den Videotheken deutlich reißerischer UNTER DEM SKALPELL DES TEUFELS benannt Blutjüngern die Banknoten aus den Taschen mogeln durfte. Dabei hat Aldo Lados [→ NIGHT TRAIN] erstaunlich versiert auf den Weg gebrachtes Regie-Debüt mit ausschweifendem Aderlass nur wenig bis gar nichts zu tun, sondern geriert sich als angenehm-morbides Schauerstück, welches sich erfolgreich Schubladen verweigert und stattdessen Elemente verschiedener Kategorien zu einem mysteriösen Mosaik aus Unheil und Heimsuchung vermengt. Als Krimi beginnend, sich nach und nach zum
Psychothriller mausernd, endet der ungewöhnliche Bastard schließlich in einem schockierenden Horrorszenario von bedrückender Botschaft und unbequemem Nachhall. Von der Bezeichnung 'Giallo' sollte sich der deutsche Abnehmer indes nicht blenden lassen, findet die Mehrzahl der in hiesigen Breitengraden dieser Gattung zugeschriebenen Zutaten hier keine Verwendung. Das Konzept MALASTRANAs geht über eine bloße Gewaltästhetisierung hinaus und lässt Handschuhe und Rasiermesser unangetastet. Auf das bewährte Bild des maskierten Meuchlers wird verzichtet; das Böse hier ist gesichtslos und hat gleichzeitig doch
unendlich viele Gesichter.
Wenn Jean Sorel [→ DER SCHAKAL] als Gregory Moore auf der Suche nach seiner Verlobten Mira
durch das düstere Prag wandelt, scheint dann auch jede der auftretenden
Personen mindestens einmal verdächtig, etwas mit dem Fall zu tun zu
haben. Schritt für Schritt setzt Moore Hinweise zusammen, fügt neue Puzzleteile
ins Gesamtbild – doch je näher er der Wahrheit kommt, desto mehr
umschließt ihn der Wahnsinn. Langsam, aber sicher verwandelt sich seine Umgebung in ein
alptraumhaftes Panorama – und das nicht nur, weil plötzlich Jürgen Drews
auf der Brücke hockt und ein Liedchen über Schmetterlinge
trällert: Die Grenze zwischen Schein und Sein verschwimmt zugunsten
panischer Paranoia, welche auch das Publikum zu erfassen droht. Bereits zu Beginn wird mit Urängsten gespielt: Die Vorstellung, trotz
andauerndem Bewusstsein für tot befunden zu werden, hat beim Menschen
schon manchen Alptraum verursacht. Der Umstand, dass das Schicksal Moores für den Zuschauer
bereits besiegelt ist, man ihn in mehreren Rückblenden jedoch noch in
quicklebendigem Liebestaumel erlebt, sorgt aufgrund des krassen Kontrasts für heftiges Unbehagen, welches sich immer weiter steigert, je länger
man Zeuge seiner unheimlichen Reise wird. So kommen einem selbst bald Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit der
Figur, stellt man sich doch irgendwann die Frage, ob Moore nicht
vielleicht tatsächlich lediglich einer fixen Idee verfallen ist. Trügen ihn seine Erinnerungen? Wurde Mira gar nicht entführt? Verließ sie ihn gar aus freien Stücken? Erfährt er lediglich Fieberträume des nahenden Todes?
Auch der Betrachter wird durch solch ihm aufgezwungene Fragen Opfer
geschickt eingesetzter Gedankenmanipulation, ein rein passives Erleben scheint
kaum möglich. Die Auflösung schließlich hat etwas mit den
Schmetterlingen zu tun, von denen in seinem Gastauftritt nicht nur der junge Jürgen Drews [→ DAS SYNDIKAT] in
seiner drolligen Bob-Dylan-Gedächtnisnummer tiriliert, sondern die auch
immer wieder Gegenstand der Dialoge werden: „Sie können nicht mehr fliegen“, röchelt der auf den Bahngleisen verendende Informant Moore noch ins Ohr, „sie lassen sie nicht mehr fliegen mit ihren Flügeln“. Mit einfachen Mitteln und sicherem Händchen gelingt es Lado (welcher auch am sorgsam durchdachten Drehbuch mitschrieb), eine ebenso gespenstische wie hypnotische
Atmosphäre zu kreieren. Begleitet vom verträumt-melancholischen Score
Ennio Morricones [→ TOP JOB] wird aus dem schönen Prag ein surreal anmutender, von
seltsamen Gestalten und verkrüppelten Menschen bevölkerter Kosmos
dunkler Vorahnungen und bedrückender Orientierungslosigkeit. Die finale Auflösung ist letztendlich als ebenso wunderbare wie
erschreckende Parabel interpretierbar, bedenkt man Handlungsort und
-zeit des Geschehens und macht sich zudem bewusst, was der Name der
Vermissten in der Übersetzung bedeutet. MALASTRANA ist somit, sofern man
gewillt ist, sich darauf einzulassen, auch als politischer Kommentar zu
verstehen.
Schwächen leisteten sich die Macher kaum. Merkwürdig erscheint
allenfalls, dass die Denkinhalte Moores nicht ausschließlich aus der
Innenperspektive erfolgen, er sich also an Momente erinnert, bei welchen er gar nicht zugegen war. Auch ein paar reichlich abgestandene Krimi-Klischees fallen aufgrund der
ansonsten vorherrschenden Unkonventionalität stärker als gewöhnlich ins
Gewicht: Wenn ein Informant sich am Telefon mit der Hauptperson zwecks Übergabe
wichtiger Informationen verabredet, anstatt diese einfach im selben
Atemzug gleich mit durch den Draht zu schicken, muss man kein Experte
sein, um den Ausgang erahnen zu können. Wer suchen will, findet auch weitere kleine Ungereimtheiten. Doch wie MALASTRANA einen so trefflich lehrt, führt Suchen auch nicht
zwangsläufig zum gewünschten Ergebnis – zumal einen die Schlussszene in
ihrer eiskalten Konsequenz ohnehin erst einmal kurzzeitig in
Gregory-Moore-gleicher Katatonie erstarren lässt. Da hilft dann nur noch die Jürgen-Drews-Konfrontationstherapie! Und jetzt alle!:
„Why don't you let the butterflies with their brightly coloured wings fly free?“
Laufzeit: 93 Min. / Freigabe: ungeprüft
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